Irgendwann zwischen der ersten und der zweiten Welle hat die Schweiz ihren Anspruch, eine Solidargesellschaft zu sein, aufgegeben. Eigentlich könnten wir es besser, doch woran hapert es, fragt sich finews.ch-Redaktor Andreas Britt.

Mehr als 6’600 Tote und zehntausende Menschen mit Covid-Spätfolgen: Wir müssen 100 Jahre zurückblättern, um in den Annalen eine ähnlich katastrophale Situation zu finden wie diejenige, welche wir gegenwärtig durchleben.

Die Spanische Grippe forderte zwischen Juli 1918 und Mai 1919 rund 25'000 Todesopfer und war als solche viel schlimmer für die damalige Schweiz als die heutige Krise (Statistisches Amt der Schweiz).

Dunkle Jahreszeit

Wir zählen bislang viel weniger Opfer als damals, obwohl die Bevölkerung stark gewachsen ist, was unter anderem sicher auch auf den Fortschritt in der Medizin zurückzuführen ist. Gleichzeitig hat die Schweiz, Heimat von Roche und Novartis und eines der reichsten Länder der Welt, eine hohe Todesrate von fast 78 Personen pro 100'000 Einwohnern (John Hopkins Universität).

Dieses durchzogene Bild von «besser als auch schon aber schlechter als möglich» widerspiegelt relativ gut das Gefühl der meisten Schweizerinnen und Schweizern in dieser dunklen Jahreszeit – nämlich dass wir die Krise eher schlecht denn recht meistern.

Das Land raufte sich zusammen

Und dieses Empfinden eines relativen Scheiterns kontrastiert signifikant mit dem kollektiven Effort, den die Schweiz im Frühjahr gewillt war zu leisten. Innert einer für Schweizer Verhältnisse kurzen Frist raufte sich das Land zusammen und fand einen Weg aus der ersten Krise – mit einer Reduktion der sozialen Kontakte aufs Wesentliche und der Kompensation von Betroffenen durch die Bundeskasse wo nötig.

Die Armee erhielt einen klaren Unterstützungsauftrag, den sie mit Bravour ausführte und ihr viel Goodwill einbrachte. In der Gesellschaft zeichneten sich erste Anzeichen von neuem Gemeinsinn und Unterstützung ab.

Güterabwägung gemacht

Der Bundesrat punktete mit seinem Bekenntnis, die Infektionszahl zu senken, die Alten und Schwachen zu schützen und das Gesundheitswesen in seiner Funktionsfähigkeit zu erhalten. Dies ging solange gut, bis die erste Welle verebbt war und die Zahlen gegen Null tendierten.

Irgendwann im Sommer kam dann der Bruch und die Stimmung kippte ins Gegenteil. An die Stelle der Sorge um jedes Menschenleben trat im Herbst wieder der alte Schlager von «jeder Rappen zählt». Bundesrat und oberster Säckelmeister Ueli Maurer vertrat diesen Standpunkt auch ganz ungeniert öffentlich: «Wir sind bewusst dieses Risiko eingegangen, weil wir eine Güterabwägung gemacht haben», sagte er dem Radio SRF im November. Oder etwas weniger diplomatisch: Tote und Kranke müssen bis zu einem gewissen (welchen?) Grad in Kauf genommen werden, um die Kosten tief zu halten.

Massive gesundheitliche Schäden

Im Frühjahr stiegen die täglichen Todeszahlen steil an und sanken im April auch wieder zügig gegen Null. In der jetzigen zweiten Welle stieg die Opferzahl ab Ende Oktober steil an und auf ein viel höheres Niveau als im Frühjahr und hat sich seit fast zwei Monaten auf diesem Level «stabilisiert» – es sterben jeden Tag zwischen 60 und 90 Personen an dieser Krankheit, und eine Vielzahl von weiteren Personen erkrankt. Von diesen Erkrankten wiederum haben sehr viele massive gesundheitliche Schäden davongetragen – und es werden täglich mehr.

In einem quälend langen Herbst zeigte sich immer mehr, dass die Solidargemeinschaft Schweiz nicht mehr ist, was sie vielleicht einmal war.

Manager setzte Kontrapunkt

Die Bewältigung der Krise darf etwas kosten, aber unsere Bereitschaft zu zahlen, hat Grenzen, und diese Grenzen werden nicht vom Virus bestimmt, sondern von der Anzahl Jahre, die es braucht, bis wir wieder auf dem heutigen Schuldenstand sind.

Einen interessanten Kontrapunkt hat ausgerechnet einer der oft verachteten ausländischen Manager eines Grosskonzerns gesetzt. Mario Greco von der Zurich sagte in einem Interview, dass die Firmen eine soziale Verantwortung hätten und diese tragen sollten.

Taktstock aus der Hand gegeben

Eigentlich ist es ja relativ klar, was der Bevölkerung zusteht, und was ihre Vertreter zu liefern haben: die Menschen vor einer tödlichen Krankheit schützen und ihre materiellen Lebensgrundlagen erhalten. Beides geht, auch ohne «Güterabwägung». Und zu diesem Zweck braucht es eine klare Strategie. Die da wäre?

Natürlich, das System der Schweiz ist wie alle anderen echten Demokratien nicht wahnsinnig gut geeignet, schnelle und konsequente Lösungen zu suchen und anzubieten. Als der Bundesrat im Sommer den Taktstock aus der Hand gegeben hatte, zeigte sich der Föderalismus schnell von seiner trägsten Seite und statt subsidiär Krisenbewältigung zu betreiben, schwangen sich die Kantonsregierungen zur wahren Macht im Staat auf.

Letzte Lokalfürsten

Als Mitte Dezember dann auch die letzten Lokalfürsten gemerkt hatten, dass etwas nicht mehr stimmte (siehe Situation in den Spitälern), gaben sie die meiste Verantwortung schnell wieder ab. Aber in der Zwischenzeit war der Zusammenhalt im Land weg.

Die Coronakrise ist sicherlich eine Krise des Föderalismus, was an anderer Stelle schon ausführlich besprochen wurde. Trotzdem werden wir uns die ansonsten so effizienten kleinräumlichen Strukturen nicht nehmen lassen – aber für eine künftige Krisensituation wäre sicherlich eine Anpassung angezeigt – mehr Führung, weniger Durcheinander, klare Ansagen.

Zu viele Opfer für ein so reiches Land

Unsere Zögerlichkeit vom Herbst 2020 war wenig erbaulich. Statt kurz und heftig stillzuhalten, sitzen wir nun im dritten Monat der zweiten Welle. Wir sind da nicht viel schlechter als andere demokratische Länder, aber eben auch nicht gut. Für ein wirklich reiches Land beklagen wir zu viele Opfer.

Es scheint, als wäre uns der moralische Kompass etwas abhandengekommen in dieser Jahrhundertkrise – siehe Ueli Maurers «Güterabwägung». Es ist Zeit, ihn wieder zu finden.

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